Mehr Bürokratie statt Wettbewerbsvorsprung?

Kritische Würdigung der ISO-Normenreihe im Rahmen einer qualitätsmanagementinduzierten Zertifizierung

Als Untersuchungsbasis dient eine von WEBHÖFER durchgeführte Untersuchung mit repräsentativem Charakter in Österreich. Er kommt hierbei zu dem Ergebnis, daß die an die ISO-Normen(2) und die damit verbundenen QM-Systeme(3) gestellten Erwartungen in der Regel über alle Branchen hinweg nicht oder nur zum Teil erfüllt werden. Die nachfolgende Graphik faßt die einzelnen Erwartungshaltungen und ihren jeweiligen Erfüllungsgrad (in Prozent) zusammen.

Abb.: Erfüllungsgrad von Schlüsselfaktoren des TQM mittels ISO-9000ff(4)

Erfüllungsgrad von erhofften Verbesserungen durch die Einführung der ISO-Norm

Der Grund für diese schlechten Ergebnisse sehen die Autoren BOTSCHEN und WEBHÖFER in den Unzulänglichkeiten des ISO-Normenwerkes(5). Das sehr statische Regelwerk definiert den Qualitätsbegriff nicht hinreichend, da das unterstellte Qualitätsverständnis(6) den Zufriedenheitsgrad externen Kunden nicht erfaßt. Kundenzufriedenheit wird lediglich über die Verhütung von Fehlern definiert. Die Autoren betonen, daß interne Fehlervermeidung nicht zwangsläufig zu Kundenzufriedenheit führt.

Die ISO-Normen vernachlässigen zudem die nachhaltige Betonung der ständigen Verbesserung als zentralen Bestandteil von QM-Systemen. Die vorgesehenen Managementreviews können den kontinuierlichen Verbesserungszyklus nicht in Gang halten(7).

Ferner liefert die Zertifizierung lediglich einen Konformitätsnachweis; eine Verbesserung, d.h. ein Mehr an Qualitätsmanagement ist per se nicht gefordert. D.h. die Norm definiert lediglich den Status quo der betrieblichen Abläufe, nicht das absolute Qualitätsniveau(8) der Prozesse. Änderungen und Modifikationen müssen lediglich dokumentiert werden. Dies führte bei Unternehmen zu einer derartigen Bürokratisierung der Systemabläufe, daß sich viele, insbesondere mittelständische Firmen, wieder "dezertifizieren" ließen. Die Autoren ziehen folgendes Fazit: "Unternehmen, die sich lediglich auf die Revision der ISO-Norm verlassen, um wieder neue Impulse vom Markt zu erhalten, werden die Wettbewerbsfähigkeit nicht verbessern können."

Neben der subjektiven Erwartungshaltung des Marktes glaubten aber auch viele Unternehmen, daß die Zertifizierung Qualität erzeugen kann. Produktqualität kann jedoch nicht durch eine statische Norm, sondern nur durch die klassischen Instrumente des Marketings erzeugt werden(9). Ein Schlüsselfaktor für das erfolgreiche Umsetzen der Normenreihe ist vom Unternehmensverhalten abhängig, d.h. ist seitens des Unternehmens kein Bemühen festzustellen, die Qualität über die Norm hinaus zu steigern, kann auch die technokratische Formel nicht nur nichts bewegen, sondern mehr "Schaden anrichten", als ohne Zertifizierung!

Darüberhinaus bereitet es vielen Unternehmenslenkern Schwierigkeiten, die abstrakten Begriffe der Normenreihe auszulegen und auf das eigene Unternehmen zu übertragen. Die Untersuchung zeigt, daß die Struktur und die Inhalte der Norm erst nach langjähriger Erfahrung nutzbringend verstanden werden. Oft führt die Implementierung zeitgleich zum normalen Geschäftsablauf lediglich zu einer Überbürokratisierung, die dem tatsächlichen Ablauf kaum unterstützt. Der Kunde mißt die Unternehmensleistung jedoch am gestifteten Nutzen für seine Problemstellung, und nicht anhand formeller Aspekte im Unternehmen.

Folgende Gründe für den overhead sind zu nennen:

Schließlich beschreibt die Norm nur den gewünschten Zielkorridor, jedoch nicht den Implementierungsprozeß detailliert. Die Folge ist oft, daß das Normenwerk auf den unteren Unternehmensebenen massiven Widerstand auslöst, da die Mitarbeiter zu wenig in die Problematik involviert werden. Da die meisten Unternehmen noch nach dem top-down-Prinzip(11) geführt werden, erzeugt die Implementierung bei den Mitarbeitern zusätzlich das Gefühl der "Noch-mehr-Kontrolle" von oben.

Da die Unternehmen meist nicht das Know-How zur Einführung haben, werden oft sog. Auditoren berufen. Diese kennen aber in aller Regel die unternehmensspezifischen key factors(12) nicht! Das führt dazu, daß Prozeßketten in Audits nicht inhaltlich und marktorientiert analysiert werden, sondern meist nur über die Terminologie im QM-Handbuch debattiert wird(13).

Die Normenreihe fordert zudem nicht die Messung und systematische Aufzeichnung von Wirtschaftslichkeitsdaten der Zertifizierung. Oft können nach der Einführung die Unternehmen nicht einmal sagen, ob dem Aufwand der Zertifizierung eine Produktivitätssteigerung oder ein zusätzlicher Marktertrag gegenübersteht. Wirtschaftliche Rahmenänderungen werden dann meist dem Normenwerk zugeordnet, d.h. andere (unbekannte) Faktoren beeinflußten das Geschäftsergebnis, nicht jedoch das QM-Management. HEIDENREICH stellte fest, daß 83% aller Unternehmen den Fehlleitungsaufwand nicht oder nur vage kennen(14).

Zusammenfassend kann man nach Meinung der Autoren folgendes sagen: Insgesamt stellt das QM-System gemäß ISO-Norm ein durchaus nützliches Instrument zur Qualitätssicherung zur Verfügung. Der Nutzeneffekt liegt darin begründet, daß Unternehmen ihre Prozeßketten analysieren müssen und dabei oft Kompetenz- und Verantwortungsüberschneidungen finden. Das Normenwerk bietet also prinzipiell die Möglichkeit, Rationalisierungspotentiale aufzuspüren und interne Schnittstellen sinnvoller zu verknüpfen. Es zeigt sich jedoch oft, daß die Norm grundlegend mißverstanden wird. Die ISO-Norm kann eine effektive Marktorientierung nicht ersetzen, bestenfalls ergänzen. Ferner muß die Norm um wichtige Zielgrößen erweitert werden, nämlich um

Nicht die Zertifizierung an sich darf das Ziel sein, sondern die Gestaltung des Unternehmens zu einem ganzheitlich qualitätsorientierten und dynamischen System, daß den Erfolg am Markt durch Optimierung der Verfahren, Produkte, Dienstleistungen und der Mitarbeiterqualifikation sucht. BOTSCHEN: "Begnügen sich hingegen Unternehmen mit den Mindeststandards oder wird nur der Erhalt der Zertifikates aus Imagegründen angestrebt, bewirkt die Norm das Gegenteil ihres eigentlichen Zieles, bestenfalls wird sie keine erwähnenswerten Impulse erzeugen."

Die Autoren geben folgende konstruktive Hinweise für die Zertifizierung:


Quellen:

1 Vgl. Botschen, G./ Webhofer, M. (1997), Forschungstransfer asw 2/97, S. 70 ff.
2 Die ISO9000ff.-Norm (=International Standard Organisation) stellt eine Gruppe von Normen dar, in der international vereinbarte Methoden und Systeme seit 1987 definiert sind. Im Rahmen der Vollendung des Binnenmarktes wird die Norm an Bedeutung gewinnen. Bestandteile der Norm sind a) Qualitätssicherung bei der Produktentwicklung und -produktion, der gesamten Logistik und des Marketings b) Dokumentation c) Identifikation und d) Qualitätsaudits
3 Auch TQM-Systeme genannt (=Total Quality Management), die ursprünglich als Bestandteil des sog. Lean Managements eingeführt wurden, mittlerweile aber auch autonom eingesetzt werden
4 Eigene Graphik, zusammengestellt aus o.g. Bericht in asw 2/97, S. 70 ff.
5 Vgl. ISO9001: QM-Systeme (1994), S. 5ff.
6 Der Norm liegt ein technokratisches Managementverständnis zugrunde. Qualität wird definiert als "conformance to specification"
7 Das Kernelement eines jeden TQM-Systems, nämlich "Kainzen" (=jap.,bedeutet ständige, mitarbeiterinduzierte Qualitätsverbesserung in Produkten und Prozessen) fehlt in der ISO-Norm
8 Ungeachtet dieser Tatsache glauben jedoch viele Kunden, daß zertifizierte Unternehmen ausschließlich Qualitätsprodukte und -dienstleistungen produzieren, d.h. oft führt nur der subjektive Eindruck des Marktes zu einem Zertifizierungsdruck
9 Instrumente wären hierbei z.B. Mafo (=Marktforschung), Benchmarking (=Wettbewerbsanalyse) oder die Portfolio-Technik (=wettbewerbsorientierte Positionierung) etc.
10 Solche Parameter werden in der Betriebswirtschaft auch als "kritische Erfolgsfaktoren" (=KEF) bezeichnet. Einfaches Beispiel: Für den Mikrochiphersteller Intel ist die Zeit ein KEF, da der dynamische Halbleitermarkt sehr schnelle Innovationszyklen verlangt, für einen Lebensmitteldiscounter wie Aldi ist der Preis der KEF, d.h. die letztlich alles entscheidende und alle anderen Faktoren nachhaltig beeinflussende Stellgröße
11 Unternehmensführung definiert Ziel, legt den Weg dorthin ohne partizipative Mitbestimmung genau fest und erteilt dem Mitarbeiter genaue Anweisungen, wie er den Weg zu beschreiten hat, ohne das dieser große Gestaltungsspielräume bei der Problemlösung hat. Gegenteil hiervon: "bottom-up-Ansatz": Mitarbeiter definieren Ziel und Wege, Unternehmensleitung entscheidet lediglich, ob das Ziel verfolgt wird. Moderne Unternehmen werden nach dem "Gegenstrom-Prinzip" geführt, d.h. einer Mischung aus den beiden vorangegangenen Ansätzen
12 Key factors (=KF) sind Stellvariablen, mit denen die KEF (Kritischen Erfolgsfaktoren, siehe hierzu Fußnote Nr. 10) beeinflußt werden können. Knüpft man an die vorangegangenen Beispiele an, so stellt man fest, daß für Intel das F&E-Budget (=Forschung & Entwicklung) und für Aldi die Kosten für die Logistik KF sind, bzw. sein können. Während die KEF vom Markt determiniert sind, legt das Unternehmen intern die KF fest, d.h. die KF sind die unternehmensspezifische Antwort auf die marktspezifischen KEF. Beiden Größen sind, je nach Branche, zeitlich und quantitativ variabel
13 Viele Auditoren "huldigen" den Formalismus zu Lasten einer effektiven Systembeurteilung
14 Vgl. Heidenreich, U./ Oser, E. "Effektives QM", in OZ, Jg. 38 (1993), S. 83ff.

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