Der Mythos der Kentauren

Bewußtseinserweiterung beim Motorradfahren durch grenzwissenschaftliche Erkenntnisse


[Kentaur] = Centaur, Zentaur m.(griech.) Fabelwesen mit Pferdeleib und menschlichem Oberkörper

Die Synthese aus Mensch und Maschine
Bewußtseinserweiterung durch Motorradfahren?
Das Regelkreis-System Motorrad
Das interne Bewertungssystem
Das Flow-Erlebnis: Der Empfindungskorridor des Bikers
Die Phasen des Motorradfahrers
Das Motorrad, Freud und die Wirklichkeit


Die Übersetzung von kreatürlicher ( = kreativ und natürlich) Bewegung in die Mechanik der Fortbewegung erzeugt bei jedem Motorradfahrer eine eigentümliche Synthese von Mensch und Maschine, eine Art Zwitterwesen, die ich im nachfolgenden in Anlehnung an die griechische Mythologie Kentaur nennen möchte. Das Motorradfahren als ein Erlebnis der Freiheit, das einerseits die schwere Trägheit der Bodenhaftung überwinden hilft und einen Gleitzustand simuliert und andererseits die Angst vor Haltlosigkeit im Kopf des Lenkers stimuliert. Eine Fortbewegung, die sich ständig zwischen den konträren Polen des ruhigen Bewegungsrausches und dem Thrill, der Grenze der Angstlust, bewegt. Das unmittelbare Erleben der Geschwindigkeit, die außergewöhnliche Nähe zur Umwelt, die Dynamik der physischen Bewegung, ein Lustadäquat für einen vogelähnlichen Zustand, die Körpermaschine Motorrad macht jeden, der Teil von ihr wird, zu einem Schwebekörper und sorgt damit für eine Grundbefindlichkeit der Seele auf zwei Rädern, die eine Art Erlebnis der Dritten Geburt darstellt, es aber auch erlaubt, ein nahezu unbegrenztes Spektrum an Erlebnissen zu suchen. Trotz aller philosophischen Bemühungen, dem Faszinationsoffert Motorrad Rechnung zu tragen, ist jede Berührung mit dem Trägermedium Straßenverkehr eine, durch die Egozentrik seiner Teilnehmer verursachte, mehr oder minder lebensgefährliche Freizeitbeschäftigung. Es erscheint also zwangsläufig als naheliegend, neben den physischen Ebenen des Motorradfahrens, nämlich der Ausrüstung oder dem Straßenverkehr auch die psychischen Ebenen zu betrachten um das Risiko zu minimieren. Die Bewußtseinserweiterung, die durch das aktive Motorradfahren erzielt werden kann und die im nachfolgenden dargelegt werden soll, kann nämlich auch im Hinblick auf das Motorrad selbst nutzbringend eingesetzt werden, beispielsweise hinsichtlich der Verbesserung des Fahrstils oder der Bewältigung unbewußter Ängste. Während ein Sicherheitstraining die physische Komponente des Sicherheitsaspektes beim Motorradfahren abdecken kann, vermag das Modell der Kentauren im Sinne eines holistischen Ansatzes das psychische Komplement zu bilden.

Durch die Verknüpfung der Freud'schen Psychoanalyse mit den neusten grenzwissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Physik über das Raum-Zeit-Kontinuum und einer Vielzahl von Beobachtungen und Erfahrungen entstand dieses Modell. Die Tatsache, daß die Begrifflichkeiten Bewußtsein, Gedanken und Energie synonym verwendet werden können und das unsere alltäglichen Wahrnehmungen und Einstellungen die Realität um uns herum zwangsläufig verändern, erschließt für den aktiven Motorradfahrer eine neue Dimension seiner vermeidlichen Freizeitaktivität, die ihn letztlich zu einer Art neuzeitlichen Kentaur modifizieren kann, eine harmonische Mensch-Maschine-Beziehung, die als Instrument zur Bewußtseinserweitung dienen kann.

Bevor wir uns mit der eigentlichen Thematik des Motorradfahrens beschäftigen, müssen wir einige Begrifflichkeiten abgrenzen und die Vielzahl der Teilbereiche, die diese Sportart tangieren, zumindest marginal darstellen. Zunächst erscheint es mir wichtig, den Begriff des Regelkreis-Modelles aus der Kybernetik einzuführen. Das Regelkreisschema ist im Grunde genommen nichts anderes als eine funktionale Darstellung eines Thermostates. Es besteht aus den Elementen Regelgröße, Regelstrecke, Stellgröße, Führungsgröße und dem eigentlichen Regler. Beeinflußt wird dieses Modell durch die sogenannten Störgrößen. Bei einer Heizungsanlage ist das Bimetall in dem Thermostat der Regler, der die Sollgröße mit der Istgröße, d.h. der Raumtemperatur vergleicht und bei Änderungen die Regelgröße, sprich die Temperatur, durch Umschalten verändert. Die Sollgröße ist die vom Benutzer eingestellte Führungsgröße, die gewünschte Raumtemperatur also. Der Raum ist demnach die Regelstrecke, die beispielsweise durch das Öffnen einer Tür (Störgröße) in ihrem Klima verändert wird.

Regelkreis-Modell

Die thermostatische Raumheizung ist demnach ein technisches, flexibles und offenes System, dem eine gewisse zeitverzögerte Dynamik innewohnt und, - das ist das Besondere daran - nach einer gewissen Zeitspanne eine relativ sichere Prognose hinsichtlich seiner Aktivität erlaubt. So ist beispielsweise aus den Erklärungsansätzen der Thermodynamik bekannt, daß sich ein beheizter Raum im Zeitverlauf wieder abkühlt und aus den dann gebildeten Erfahrungswerten das Einschalten des Reglers geschätzt werden kann. Die Wirtschaftswissenschaft stülpt dieses System über ein Unternehmen und bezeichnet den Regler als die Unternehmensführung und die Regelstrecke als Betriebsablauf, d.h. die Gegenüberstellung des betrieblichen Inputs zum betrieblichen Output. Die Führungsgröße ist i.d.R. Gewinnmaximierung oder ein marketingpolitisches Ziel. Während in diesem Modell die Stellgröße den Arbeitseinsatz darstellt, sind Marktschwankungen, Lieferengpässe etc. die determinierenden Störgrößen. Bei diversen Markt- oder Produktveränderungen muß demnach die Unternehmensleitung mittels neuer Vorgaben das Modell stabilisieren beziehungsweise in Ausrichtung an das Sollziel ins Gleichgewicht bringen. Wir sehen also, daß der universelle Gedankenansatz des Regelkreises weit genug gefaßt ist, sodaß er auf fast alle Teilbereiche des menschlichen Lebens übertragen werden kann.

Deshalb ist dieses Regelkreissystem auch für Motorradfahrer gültig: Die finanziellen, zeitlichen und physiologischen Aufwendungen wären dann logischerweise die Stellgröße, die Regelstrecke das Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sich der Fahrer bewegt, Verbrennungskraftstoff als Input und die Motorleistung als Output, und unser kognitiver Verstand als Regler, der die Richtung des Motorrades immer wieder mittels gezieltem Einsatz mit der eigentlich gewünschten Soll-Richtung in Einklang bringen muß. Ähnlich wie in der Wirtschaftswissenschaft, in der anschließend die Regelkreise der Mikrowirtschaft mit den der Makrowirtschaft und dann mit den globalen Volkswirtschaften verknüpft werden, so ist auch der Motorradfahrer in die unterschiedlichsten Über- und Subsysteme eingebettet, die miteinander aktiv oder passiv interagieren, wie z.B. die Infrastruktur, die Wetterlage, die Motorleistung oder der Zustand der Reifen.

Bei der Zielvorgabe, der Führungsgröße also, kommt nun der eigentliche Schwachpunkt des Motorradfahrens hervor, weshalb es sinnvoll erschien, das Regelkreis-Schema einzuknüpfen. Die Zielvorgabe, d.h. der Grund warum man überhaupt diesem gefährlichen Hobby frönt, scheint nämlich zunächst einfach beantwortet: der sogenannte Fahrspaß aus einem gewissen Selbstzweck heraus, mit allen seinen Unterarten wie Freiheitsgefühl, Selbstbeherrschung, Naturnähe etc. wird wohl in den meisten Fällen genannt werden. Genauso groß wie die Anzahl der Motorradklassen, Modelltypen und Biker ist das Spektrum des stark subjektivierten Erlebens: Ist für den einen die Bergstraße mit vielen Kehren die Erfüllung des Motorradfahrens, so ist es für den anderen eine schweißtreibende Angelegenheit und für den dritten gar eine gefährliche Unmöglichkeit, die großräumig umfahren wird. Wie aus der Freud'schen Emotionsforschung bekannt, ist also nicht die Realität Gegenstand und Grund des Lustgewinns, sondern die subjektive, höchst individuelle Einschätzung der Realität, die überdies noch nicht einmal konstant ist, daß heißt, die sich auch noch abhängig von der Tagesform und anderen Faktoren ändert.

Wir bewegen uns in unserem kybernetischen Motorrad-Regelkreis freiwillig in einem System, dessen Zielvorgabe wir noch nicht einmal genau kennen, da wir offensichtlich unfähig sind, genau zu quantifizieren, was nun eigentlich am Fahren Spaß macht. Ist also beispielsweise in anderen Systemen die Zielvorgabe eindeutig definiert, gewünschte Raumtemperatur oder einer bestimmter Umsatz ausgedrückt in Zahlen, so macht uns ein bestimmter Streckenabschnitt beim Motorradfahren manchertags nichts als Schwierigkeiten und anderntags unbeschreiblich viel Freude. Wie kann also der Motorradfahrer als Regler einen korrekten Soll-Ist-Abgleich durchführen, wenn die Zielvorgabe in der Regelstrecke variabel und nicht eindeutig vorgegeben ist?

Es ist wichtig, daß der Biker lernt, daß nicht seine Ratio, sondern seine emotionale Ebene durch ihre Bewertung eine andere Realität schafft. Nicht umsonst raten alte Hasen davon ab, schlecht gelaunt, übermütig oder gar betrunken sein Gefährt zu lenken. Ähnlich wie bei dem Thermostat läßt sich sogar relativ problemlos abschätzen, wann es zu einer nicht mehr zu koordinierenden Soll-Ist-Abweichung (Sturz) kommen muß, da Fahrkönnen und Risikobereitschaft als Stellgröße in einem dem Motorradfahrer zumindest partitell unbekannten System in Wechselwirkung auf ihn einwirken - die Unfallstatistik gibt hierüber schlüssig Auskunft. Erster Schritt muß es daher sein, das interne Bewertungssystem kennenzulernen, daß die Zielgröße vorgibt.

Nach Freud ist unser Bewußtsein in drei Stufen unterteilt, in das sogenannte ES, in das ICH und das ÜBER-ICH. Dieses Ebenenmodell soll an dieser Stelle nur so weit interpretiert werden, wie es der Argumentation angemessen erscheint, so daß wir den Ebenen nur jeweils ein Prinzip zuordnen wollen. Das ES als Vertreter des Lustprinzips, als dem Sammelbecken unserer Triebe, Wünsche und Bedürfnisse. Das ICH als Repräsentant des Realitätsprinzips, daß die Ambivalenz des Lebens und uns selbst darstellt und das ÜBER-ICH als moralische ethische Überinstanz, die das ICH durch Erziehung und kulturelle Restriktionen einschränkt. Diese Ebenen sind insofern interessant, da bei der Entscheidungsfindung im Soll-Ist-Vergleich, d.h. der konkreten Fahrsituation, schwere Konflikte zwischen den Ebenen stattfinden. Während das ES die Grenzsituation oder die Geschwindigkeit als Lustbefriedigung einfordert, warnt das vom ES abhängige ICH vielleicht vor dem nassen Fahrbahnbelag oder der eigenen Fähigkeitsgrenze und die ÜBER-ICH-Instanz, hier verkörpert durch die Geschwindigkeitsbegrenzung, hat meist ohnehin schon Rotlicht signalisiert (nach fundierten Untersuchungen ignorieren nämlich bis zu 70% aller Biker derartige Reglementierungen öfters bis immer). In diesem Spiel der Kräfte in unserem Kopf gewinnt je nach Tagesverfassung mal die, mal jene Ebene die Überhand. Mal geht die Post ab, mal läßt man es gemütlich angehen, je nach Lust und Laune, wie man zu sagen pflegt.

Offensichtlich gibt uns also schon die Sprache einen Hinweis darauf, daß das ES wohl die alle beiden anderen Ebenen manipulierende Quellebene ist. Dieses ES, daß zu einem großen Teil vom Unterbewußtsein determiniert wird, bewertet alle Ereignisse ambivalent, d.h. zweideutig oder besser ausgedrückt, zweimal unterschiedlich, nämlich emotional aber auch kognitiv. Es bildet sich in diesem Bewertungssystem eine Art Empfindungskorridor, in dem sich der Motorradfahrer wohl fühlt.

Am unteren Ende der Empfindungsskale verläuft die Grenze der Langeweile, die Obergrenze wird durch den Streß gezogen. Innerhalb dieser Begrenzungen verläuft nun sinuskurvenartig der sog. Flow, der Gefühls- und Emotionsgradient. Das bemerkenswerte daran ist, daß ein Motorradfahrer sich um so glücklicher fühlt, je kürzer die Amplitude wird, d.h. je öfter ein Ausschlag nach unten und oben in einem Zeitabschnitt auftritt, desto befriedigender empfindet der Biker die Situation, die beispielsweise durch eine kurvige Landstraße ausgelöst werden kann. Ein scharfe, gefährliche Kurve führt zu einem Ausschlag nach oben, ein wenig beeindruckendes Geradeausstück liegt i.d.R. nur knapp über der Langeweile-Grenze. Wie breit dieser Empfindungskorridor ist, legt nun unser Unterbewußtsein fest. Durchschlägt beispielsweise beim ungeübten Fahrer die Kehrenkombination einer Paßstraße die obere Grenze sehr rasch, so mag der Routinier vielleicht nur einen kleinen Ausschlag nach oben empfinden. Außerhalb dieses Korridors ist die Unfallwahrscheinlichkeit natürlich ungleich größer, denn außerhalb unseres Bewertungssystems führt fast jede Handlung zu einem Fehler; so kann ein handelsübliches Bimetall im Thermostat ab einem Temperaturbereich von schätzungsweise 100 Grad Celsius nicht mehr angepaßt umschalten, und analog der Motorradfahrer auf die Situation nicht angepaßt reagieren. Ähnlich dem Metall, daß den Stromkreis einfach schließt, so bremst der Ungeübte in der Regel immer dann wenn die Streckenführung eher das Gegenteil verlangen würde.

Wenn man nun, wie die Wortwahl vielleicht vermuten läßt, die Breite des Korridors ausschließlich auf die Fahrpraxis zurückführt, würde man einen schwerwiegenden Fehler machen. Nicht nur, daß jeder Biker Fahrer kennt, die sehr jung sind, und schon außerordentlich gut fahren und Oldies, die offensichtlich nichts dazu gelernt haben, so gibt auch das Freud'sche Modell einen Hinweis darauf, daß Fahrroutine längst kein Garant für überdurchschnittliches Fahrkönnen ist. Oberhalb der Streßlinie liegt nämlich die sogenannte Signalangst, eine Art Hinweisschild unseres Unterbewußtseins, daß hier die "tote Zone" beginnt, die man tunlichst meiden sollte; so heißt der Effekt, der die Reizüberflutung oberhalb der Deadline verhindern soll auch schlicht Vermeidung. Vermeidet also der Motorradfahrer einfach diese Zone, so lernt er auch nie hinzu, und sein von Anfang eher bescheidener Korridor bleibt eng. Versucht man aber, ständig an diese Grenze oder darüber hinaus zu fahren, dann ist die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes sehr groß. Beide Methoden sind also offensichtlich nicht zielführend. Es liegt demnach auf der Hand, daß alle Fahrroutine, Risikobereitschaft und Fahrertrainings zwar durchaus ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben, das eigentliche Problem der fehlenden Zielgröße aber nicht lösen. Es bietet sich also an, die bereits oben erwähnte Quell- und Bewertungsebene zu analysieren (das Unterbewußtsein also) und am Bewußtsein, im Sinne einer Erweiterung, zu arbeiten.

Die Entwicklung eines durchschnittlichen Motorradfahrers verläuft phasisch. In der ersten Phase, meist mit Erwerb des Führerscheins, erfolgt das Kennenlernen des Handlungsablaufes. Der Emfindungskorridor ist tendenziell eher schmal, und schon ein kräftiges Herausbeschleunigen durchbricht die untere Linie, auch Reizschwelle genannt, vergleichsweise vehemment und führt so zu einem erheblichen Lustgewinn. Mit zunehmender Fahrpraxis verschiebt sich der Korridor, und die Fahrzeugbedienung erreicht den Bereich der Gewöhnung. Hier ist dann der Zeitabschnitt der vielleicht vernünftigsten Fortbewegung mit einem Einspurfahrzeug erreicht, nämlich die Phase zwei, der Status des Sonntagsfahrers. Wochentags durch die Benutzung des PKW's und anderer Restrektionen in seinem Korridor eingeengt, empfindet der Fahrer hier durch die Faszination Krad ein immer wiederkehrendes Glücksmoment. Vielfahrer dagegen durchleben jetzt die Phase drei, in der versucht wird, seine Fahrtechnik immer weiter zu perfektionieren, da das Gewöhnungsmoment natürlich proportional zunimmt. Das geht so weit, daß der Biker an schlechten Tagen an imaginäre Motorschäden glaubt, weil der Motor scheinbare Leistungseinbußen zeigt. In dieser Phase gewinnt der Faktor Geschwindigkeit ein entscheidendes Gewicht. Durch öftere Grenzbereichaufenthalte, ist der Korridor größer geworden, und der Lustgewinn muß kompensiert werden. In der darauffolgenden Phase ist durch die Verbesserung der Fahrtechnik keine Steigerung des Lustgewinns mehr möglich. Der Fahrer hält sich nun fast ausschließlich im motorradtechnischen Grenzbereich auf.

Anschließend beginnt die Phase fünf: ein kompetenter Gegner muß als Meßlatte dienen, d.h. auch wenn dies von vielen Bikern kategorisch dementiert wird, das Fahrkönnen anderer ist nun Maßstab des eigenen Handelns. Intuitiv spürt der Motorradfahrer nämlich, daß er durch Training und Routine, seien sie noch so zeitintensiv, den Korridor nicht mehr aus eigener Kraft weiten kann. Die Statistik legt Zeugnis davon ab, daß in dieser Phase Unfallangst und Gefahrenreiz sehr nah zusammenliegen. Der Streß in dieser Phase ist am größten, da nun mittels externem Katalysator ständig in die Signalangstzone gestoßen wird. Falls nicht ein folgenschwerer Unfall in dieser Phase die Abwendung vom Thema Motorrad erzwingt, der sich durch die oben beschriebenen Mechanismen sogar relativ sicher prognostizieren läßt, erfolgt die nächste Phase, der Wechsel vom Sportmotorrad zum Tourer oder Chopper, es kommt zu, wie es Dudenberg nennt, einer Art Rückbesinnung auf die Auslöserreize der Beginnerzeit.

Natürlich ist diese Entwicklung auch vom jeweiligen Zeitgeist abhängig, aber in der Regel schließt sich anschließend das Phasenmodell wieder zu einem Kreis, da in der letzten Phase wieder die Hinwendung zum Sportmotorrad und vernunftbestimmter Fortbewegung dominiert. Unser Ansatzpunkt mag im folgenden die Phase vier sein. Der Motorradfahrer bewegt sich noch aus eigener Willenskraft an den Grenzbereich der psychischen und manchmal - wenn auch seltener - technischen Leistungsfähigkeit. Hier muß nun die Bewußtseinserforschung einsetzen, will man nicht die leidvollen Erfahrungen der nachfolgenden Phasen durchleben und das möglicherweise tödliche Ungleichgewicht zwischen Fahrkönnen und Risikobereitschaft erleben.

Das Modell sollte bis hier gezeigt haben, daß neben den physischen Komponenten, wie Motorrad, Sicherheitsausrüstung etc., die subjektiv empfundene Wertigkeit des Erlebnisses Motorradfahren emotional quantifiziert wird, und die Quellebene unser Bewußtsein, respektive unser Unterbewußtsein ist. Das universelle Fazsinationsoffert und die Einschätzung, ob ein Lustgewinn vorliegt oder nicht, entscheidet sich also größtenteils im Kopf des Motorradfahrers und überdies meist unbewußt, d.h. ohne sein kontrolliertes Zutun. Neben dem praktischen handling relativ komplexer Vorgänge, wie beispielsweise Bremsen oder Fahrzustände in extremer Schräglage, muß das Bewußtsein den praktischen Fähigkeiten angepaßt werden, um eine angemessene Erweiterung des Empfindungskorridiors, und somit letztlich eine gefahrlosere Lustgewinn-Steigerung, zu erzielen. Unbewußte Ängste werden in diesen Situationen nämlich aktiviert und beeinflußen die rationale Beurteilung der Lage nachhaltig. Dieses Modell versucht nun, grenzwissenschaftliche Erkenntnisse als Hilfskonstrukt zu benutzen, um sich mit der mentalen Qualität des Motorradfahrens auseinanderzusetzen.

Neuste Erkenntnisse der Quantenmechanik belegen zum Teil sehr eindrucksvoll, daß die Begrifflichkeit Beobachter der klassischen Theorie für Versuchsabläufe, Untersuchungen und Realitätsbeobachtungen von dem unbestrittenen Begriff des Teilnehmers abgelöst wird. Ohne nun auf die einzelnen Forschungsgebiete näher einzugehen, kann gesagt werden, daß das physische Universum nicht unabhängig von der Gedankenwelt seiner Teilnehmer exestiert, d.h. das, was wir Wirklichkeit nennen, ist nur ein konstruiertes Gebilde unseres Geistes. Wir entwerfen also uns und die Situationen, mit denen wir konfrontiert werden, zunächst einmal selbst, und zwar ohne jegliche zeitliche Dimension. Diese individuellen Realitäten und Gedanken beinflussen alles, was wir wahrnehmen können. So, wie der Motorradfahrer in verschiedene Über- und Subsysteme der Realität eingebettet ist, so enthält auch jede individuelle Konstruktion des Universums eine unendliche Anzahl anderer Universen, mit allen denkbaren Variationen, die jeweils miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beinflussen. Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: "Schneidest du an einem Grashalm, rüttelst du am Universum". Diese neusten, naturwissenschaftlichen Erkenntnisse belegen offenbar nur die bereits exestierende Erkenntnis, das alles mit allem verbunden ist. Jedes Teil des Universums, also auch das Motorrad, ist unmittelbar mit jedem anderen Teil, also auch mit seinem Fahrer, verbunden! Diese Verbindungen sind uns natürlich nicht bewußt - fast jeder kennt sie jedoch, wenn man zum Beispiel Menschen oder Situationen zum ersten Mal erlebt, die man aber bereits zu kennen glaubt, oder Ereignisse, die Bestandteil von Träumen waren, in der Realität bestätigt findet.

Unterstellen wir also, daß alles mit allem verbunden ist, dann kann sich der Motorradfahrer noch nicht einmal bewegen, ohne die unendliche Anzahl von Universen um sich herum zu beinflussen, d.h. denkt ein Motorradfahrer, daß er sich in einer gefährlichen Situation befindet, beeinflußt er diese Situation bereits mit, er "schustert" sich sozusagen seine (gefährliche) Realität, die mit der (ungefährlichen) realen Realität nicht kongruent sein muß oder umgekehrt.

Wesentlich dabei ist ferner die Erkenntnis, daß sich auf der submikroskopischen Ebene offenbar alles bewegt. Der Kehrschluß daraus lautet, daß in allem Leben ist. Auch das Motorrad des Bikers "lebt" also, nur auf einer anderen Stufe des Bewußtseins. Da Materie nichts anderes ist, als von der Gravitation eingeschlossene Energie und unsere Gedanken nichts anderes sind als Energieschwingungen, die ihrerseits Energie hervorbringen können, interagieren also bei einem bestimmten Schnittpunkt Materie und Geist, Motorrad und Fahrer. Der Beweis ist in Phänomen wie Psychokinese, Veränderung von metallischen Strukturen (bekannt unter dem sog. "Löffelbiegen"), Telepathie, Psychometrie, Telekinese oder auch Levitation zu suchen. In allen Fällen kommunizieren hier offensichtlich Materie und Geist.

Überdies können wir mit unseren Energien (Gedanken) die Zukunft beeinflussen. Jedesmal, wenn also der Biker denkt, daß er sich auf dieser Strecke glücklich fühlt, dann ist er in einer Schicht des Universums auch wirklich ausgefüllt und in Harmonie und verce visa. Wenn man also genügend Schichten des Universums denkt, treten sie schließlich zueinander in Harmonie, und Gedanken erzeugen die gewünschte Materie, d.h. sie werden Realität. Deshalb erweitert Motorradfahren das Bewußtsein, denn die Interagierung zwischen zu Materie gewordener Energie und unserem Geist ist eine Art Kommunikation mit uns selbst, damit Wissen in Erscheinung treten kann.

Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse werden transparenter, wenn man sie auf die jeweilige Situation in Beziehung setzt. Wenn unsere Gedanken tatsächlich die Realität beeinflussen können, warum beispielsweise nicht auch die Haftungsgrenze des Reifens? Das Problem scheint also in der Tatsache begründet, daß wir selbst nicht Herr unserer Gedanken sind. Gefühlsmuster und Emotionen treten scheinbar ohne unser Zutun auf, und, das bestätigen Erkenntnisse aus der Schlafforschung, je mehr man sich bewußt bemüht, einen Gedanken zu unterdrücken, desto stärker drängt er sich einem auf. Viele Probleme, die der Motorradfahrer also in sein Unterbewußtsein verdrängt hat, kommen in speziellen Streßsituationen oder Fehlleistungen (Freud'scher Versprecher) wieder empor und behindern ihn. Alle klassischen Freud'schen Abwehrmechanismen können diesem Grundprinzip unterstellt werden. Bei der Regressionsbildung spricht Freud beispielsweise von hauptsächlich zwei Auswirkungen auf die menschliche Psyche: Energiebindung (-verlust) und Realitätsverzerrung, d.h. konkret: falls sich ein Biker während einer öden, langen Autobahnfahrt mit Wohlwollen an die viele Kilometer zurückliegende Paßstraße erinnert, um der langweiligen Realität zu entfliehen, dann verändert sich sein Bild von der tatsächlichen Realität. Durch die dadurch hervorgerufene emotionale Reaktion bindet er Energie, die ihm beispielsweise dann bei der Reaktion eines plötzlichen Bremsvorganges des Vorausfahrenden fehlt. Man spricht dann von Unkonzentriertheit oder dergleichen: Tatsächlich hat man sich jedoch auf ein Wunsch- oder Erinnerungsbild konzentriert, das als Lustadequat "herhalten" mußte.

Was könnten nun die praktischen Handlungsalternativen sein? Selbsterkenntnis sollte an die Stelle treten, an die normalerweise der Konkurrenzgedanke anschließt. Selbsterkenntis dahingehend, daß ein Sport grundsätzlich nicht dazu taugt, irgendwelche persönlichen Verfehlungen zu kompensieren oder durch besonders spektakuläre Schräglagen zu rationalisieren. Motorradsport ist kein Ventil für irgendwelche Lebensängste oder Aggressionen, die ich gegenüber einem Vorgesetzten oder meinem Lebenspartner gegenüber hege (Projektion). Der bewußtseinserweiterte Motorradfahrer glaubt nicht an den Zufall - er hat ihn komplett aus seiner Ratio gestrichen. Denn nichts, aber auch garnichts passiert zufällig oder durch einen "dummen Zufall". Der Reifen hat nicht wegen eines Zufalls seine Haftung verloren. War es vielmehr denn nicht so, daß ich in Eile war und noch dazu stocksauer, weil mich dieser Trottel vor der Kurve ausgebremst hat und der Pneu seine beste Zeit schon hinter sich hatte? Unglücke sind Verkettungen von Ereignissen, die wir momentan nicht überblicken können, die wir aber in Wirklichkeit unbewußt durch Ängste oder Aggressionen hervorgerufen haben.

Der aufgeklärte Biker muß dies als ein unumstößliches Fakt aber auch als die zentrale Zukunftsperspektive begreifen, denn im Kehrschluß bedeutet dies, daß solange sich der Biker an die ihm vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten der Natur hält, handelt er im Einklang mit selbiger, und zieht keine Niete im Spiel der Geschwindigkeit. Provozieren lasse ich mich nur dann, wenn ich selbst komplexbeladen und voller Aggression bin; ich habe dann folgerichtig die Bewußtwerdung in der Phase vier wegen Denkfaulheit oder Überheblichkeit nicht vollzogen, d.h. bei einem Sturz muß ich die Wirkung der Ursache gegen mich gelten lassen, ich muß die Konsequenzen daraus tragen. Ignoriere ich nämlich aufgrund oben dargestellter Phänomene die geänderte Situation, dann sorgt der Regelkreis eine Ebene über mir (in die ich als Subelement fest eingebettet bin), daß ich als Störfaktor eliminiert werde, denn die Fliehkraft gilt für alle. Der bewußt fahrende Motorradfahrer glaubt an seine mentale Stärke und kennt seine Schwächen genau - während seiner Phase zwei und drei hat er sie sich durch ein gewisses Maß an Fahrroutine angeeignet und zwar dergestalt, daß er sich nach jedem bewußten Fehler nach der Causa gefragt und ihn nicht mit einem "das passiert mir nicht nochmal" vom Tisch gewischt hat. Man muß sich darüberhinaus ein gewisses Wissen über technische Zusammenhänge am Motorrad selbst aneignen und die Maschine auch als System begreifen, das nur so stark sein kann, wie sein schwächstes Glied, womit die regelmäßige Wartung gemeint ist. Zu der Bewußtseinserweiterung als zentrales Element gehört ferner, daß ich, durch die Tatsache begründet, daß alles miteinander verbunden ist, ich mental auch mit allen anderen Verkehrsteilnehmern kommuniziere. Nicht nur erlebte Zusammenhänge über die Reaktion anderer Teilnehmer muß also in die Reaktion einfließen, man muß ein "Gespür", eine Intuition für die Handlungsaffektivitäten speziell der Autofahrer entwickeln und sich in letzter Konsequenz natürlich auch darauf verlassen.

Wenn ich in diesem Absatz von Naturgesetzen spreche, dann meine ich in erster Linie natürlich die Harmonie - und so muß mein gesamtes Handeln immer von einem Harmoniegedanken getragen werden und zwar nicht nur im Zusammenspiel mit anderen, auch in einem selbst muß die Harmonie der Grundpfeiler aller meiner Handlungen sein. So liest man oft in Unfallprotokollen, daß das beispielsweise männliche Opfer beklagt, der gegengeschlechtliche Verkehrsgegner hätte völlig "unlogisch" agiert - der Sturz oder Unfall kann dann eine Konsequenz aus einer einseitigen Denkweise sein. So neigen speziell viele Männer zur Überbetonung der linken Gehirnhälfte, also zu einer Überrationalisierung, die als Gesetzmäßigkeit nur die Logik anerkennt. Völlig unberücksichtigt bleibt die Fähigkeit der rechten Gehirnhälfte, z.B. die Intuition, denn vieles läuft in den Augen eines vermeidlichen Homo Faber eben völlig irrational ab, ist deshalb aber genauso ein Bestandteil unseres Lebens.

Motorradfahren kann deshalb auch als eine Chance begriffen werden, da wir falsche Einstellungen relativ eindringlich im Spiegelbild des Straßenverkehrs erkennen können. Man muß kein Genie sein, um alle Erkenntisse der Psychoanalyse, Schlafforschung, Kinematik, Kybernetik, Physik, Emotionsforschung etc. auf sein Aktionsfeld zu übertragen, die einfachen Rezepturen, beispielsweise aus dem Taoismus, reichen aus, um einen Gleichgewichtszustand zu erreichen, nämlich durch Demut, Motorradfahren als Chance zu begreifen und nicht nur als bloße Freizeitbeschäftigung, d.h. Demut vor der Erkenntnis, das mir dieses Medium vermittelt kann sowie Liebe als Bekenntnis und Einsicht, daß ich meine aufoktroyrte einseitige Denkweise nur mit einem Partner überwinden kann, Unabhängigkeit, dergestalt, daß ich alles tun kann, freilich an die Konsequenzen meines Handelns gebunden bin und letztlich Selbsthilfe, daß ich das Leben als dynamischen Prozeß begreife, aus dem ich immer dazulernen kann.

Unabdingbar provoziert das Motorrad zur Selbsteinschätzung und zur genauen Beobachtung und anschließender Beurteilung der Situation durch Handeln. Das Leben selbst stellt kein anderes Erwartungsmuster an uns. Motorradfahren ist also vielmehr ein Versuch einer möglichst hohen Übereinstimmung zwischen Bewußtsein und Materie, ein Ausdruck von Gefühlen hin zu einer Harmonie, die das Motorrad durch den Mythos der Kentauren ausdrücken kann.

Quellen (ohne Textverweis):

Schönhammer, R. "Fußgänger der Luft", Psychologie Heute, 1994
Toben, B., "Raum-Zeit und erweitertes Bewußtsein", 1990
Dundenberg, D., "Smooth Approach", Der Reitwagen, 1993
Csikszentmihalyi, M., "Das Flow-Erlebnis", 1985

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